Kapitel 15
Anna, 2. September 2008
Als ich nach dem Ende meiner Ehe zu Dede gezogen war, quälte mich immer dieselbe Frage. Ich lag morgens im Bett und überlegte eine geschlagene Stunde lang, ob ich Paul je geliebt hatte. Ich hatte es geglaubt, nun jedoch überkamen mich Zweifel. Aber konnte ich mich oder überhaupt ein Mensch sich tatsächlich derart fundamental irren? Wie sollte ich je erkennen, wann es wahre Liebe war?
Bei jedem Mann, bei jeder Beziehung hat mich diese Frage gequält, und am Ende hatte ich jedes Mal das Gefühl, dass irgendwas fehlte. Von manchen Männern war ich fasziniert, mitunter sogar - vor allem bei Rusty - regelrecht besessen, wie von einem unersättlichen Hunger gepackt. Aber konnte etwas derartig Belastetes tatsächlich erwachsene, dauerhafte Liebe sein? Hätte es dazu führen können? Ich warte auf »Den Tag, an dem ich weiß, dass ich wirklich verliebt bin«, so wie andere auf die Wiederkunft Christi warten.
Die ersten Augustwochen war ich ziemlich schwermütig, und zunächst wehrte ich mich dagegen, dass das irgendwie mit Nat zusammenhängen konnte. Nach einer Weile gestand ich mir ein, dass ich ihn vermisste oder, genauer gesagt, die Chance, die ich in ihm gesehen hatte, eine Gelegenheit, etwas anderes zu haben, das sich sowohl neu als auch richtig anfühlte. Diese Einsicht traf mich härter, als ich geahnt hatte. Sie holte viele Empfindungen in Bezug auf Rusty an die Oberfläche, mit denen ich nicht gerechnet hatte, vor allem Zorn. Spätnachts, wenn ich darüber nachgrübelte, konnte ich manchmal meine eigene Haltung nicht mehr verstehen. Gegen welches Tabu verstieß ich denn, wessen Gefühle wollte ich schonen? Wenn der Vater mich nicht wollte, warum konnte ich dann nicht mit dem Sohn zusammen sein? Wäre das nicht für alle Beteiligten das Beste? Wenn ich dann morgens erneut darüber nachdachte, kam es mir so vor, als wäre mir all der Boden, den ich in den letzten fünfzehn Monaten gewonnen hatte, unter den Füßen weggespült worden.
Aber ich dachte, dass ich allmählich drüber wegkam. Ich fühlte mich, als hätte ich diese Enttäuschung zu ihren Vorgängern ins Regal geräumt. Und dann, heute Morgen, war ich im Anhörungsraum des Obersten Bundesstaatsgerichts, um Miles Kritzler zu assistieren, der vergeblich versuchte, für einen wichtigen Mandanten eine gerichtliche Verfügung zu erwirken. Ihm war die obligatorische Anhörung gewährt worden, aber die Richter waren ziemlich genervt, weil er ihre Zeit in Anspruch nahm, und alle sieben saßen da oben und sahen aus, als wollten sie sagen: Erschießt mich einfach. Seine Redezeit war fast zu Ende, als jemand zur Richterbank trabte, um Richter Guinari eine Akte zu bringen, und als ich rüberschaute, sah Nat mich bereits an, so dünn und gequält und wunderbar schön, einen erstaunlich flehenden Blick in den meerblauen Augen. Ich hatte Angst, der Ärmste würde jeden Augenblick anfangen zu schluchzen und dass ich dann auch losheulen würde.
Als ich zurück ins Büro kam, hatte ich eine Nachricht von ihm auf der Mailbox.
»Wenn ich heute Abend um sechs Feierabend mache, gehe ich direkt zu deiner Wohnung. Ich werde klingeln, und wenn du nicht zu Hause bist, setze ich mich auf die Treppe und warte, bis du kommst. Falls du dich also wieder im Griff hast und mich immer noch nicht willst, dann übernachte lieber bei einer Freundin, weil ich nämlich die ganze Nacht dort sitzen werde. Wenn du diesmal Nein sagst, musst du es mir ins Gesicht sagen. Und ich glaube nicht, dass das passieren wird, es sei denn, ich kann dich sehr viel schlechter einschätzen, als ich glaube.«
In diesem Augenblick wusste ich, dass trotz des Zögerns und des Widerwillens, trotz der Warnungen und des furchtbaren Risikos, trotz der Beschwörungen an mich selbst: »Nein, es ist Wahnsinn«, dass mein Herz trotz alldem etwas anderes wollte und ich nicht anders konnte, als ihm zu folgen. Wie heißt es noch mal in dem Song: I would give everything for love. Das ist eine größere, tiefere Wahrheit über mich als all die Ermahnungen und Lehren, die ich unbedingt verinnerlichen wollte. Und im Grunde hab ich das auch immer gewusst.
Während der letzten Monate, die ich bei Dede wohnte, ging ich mit einem Cop namens Lance Corley, den ich in einem Abendseminar über Wirtschaftswissenschaften kennengelernt hatte. Er war ein lieber Kerl, groß und gut aussehend, und wenn er mich besuchte, beschäftigte er sich viel mit Jessie. Er hatte eine Tochter, die er nicht oft zu sehen bekam. Fast von Anfang an merkte ich, dass Dede in ihn verschossen war, und mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Sie war so durchschaubar. Zum Beispiel fragte sie mich mehrmals am Tag, wann er denn wohl kommen würde. Letzten Endes beschloss Lance, dass er versuchen würde, sich wieder mit seiner Ex zu versöhnen, vor allem weil ihm durch Jessie klar geworden war, wie sehr ihm seine Tochter fehlte.
Als ich das alles Dede erklärte, war sie sicher, dass ich sie anlog und Lance nur deshalb nicht mehr in die Wohnung kommen ließ, weil ich nicht wollte, dass er sich in sie verkuckte. Es wurde so schlimm, dass ich Lance schließlich bat, Dede anzurufen und ihr die Situation zu erklären, aber das war ein Fehler. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt, weil Lance von ihrer spinnerten Verknalltheit wusste, und das machte sie wütend.
An dem letzten Morgen, den ich dort wohnte, wachte ich gegen sechs Uhr früh auf und sah Dede neben meinem Bett stehen. Sie hielt eine Küchenschere in der Hand und hatte sie auf mich gerichtet. Ich konnte sehen, dass sie sturzbetrunken war. Sie zitterte, als hätte sie einen Motor in der Brust, ihr Gesicht war fleckig, und ihr lief die Nase, während sie weinend dort stand und mit der Idee spielte, mich zu töten. Ich sprang auf und schrie sie an. Ich ohrfeigte sie und beschimpfte sie und nahm ihr die Schere weg. Sie sank in einer Ecke meines Zimmers zu einem Häufchen Elend zusammen, sodass jeder, der zufällig hereingekommen wäre, sie auf den ersten Blick für einen Berg schmutzige Wäsche hätte halten können.
Jetzt hörte ich mir Nats Nachricht sechs- oder siebenmal an, und dann griff ich zum Telefon, um Rusty anzurufen. Ich sagte, ich müsste mit ihm reden, obwohl ich beim besten Willen nicht wusste, was ich ihm sagen würde. Aber im Leben passieren andauernd verrückte Dinge, wenn Menschen sich verlieben. Ich habe eine Freundin, die sich scheiden ließ und dann den Bruder ihres Exmannes heiratete. Ich hab von einem Anwalt in Manhattan gehört, einem leitenden Partner in einer großen Kanzlei, der sich mit fünfzig in einen der Büroboten verliebte und eine Geschlechtsumwandlung machte, damit der junge Mann ihn wollte, was tatsächlich auch eine Zeitlang funktionierte. In der Liebe ist nichts unmöglich. Sie hat ihre eigene Quantenmechanik, ihre eigenen Regeln. Wenn es um Liebe geht, ist für Anstand oder auch Weisheit manchmal nur noch begrenzt Raum. Wenn du jemanden stark genug liebst, musst du dir eingestehen, dass du nun mal so bist, und versuchen, diesen Menschen zu bekommen.
An jenem Tag in Dedes Wohnung weinte sie, während ich meine Sachen packte, und beteuerte: »Ich hätt's nicht getan, ich hätt's nicht getan. Ich hab nur so getan, als ob, aber ich hätt's nicht getan.«
Sie sagte das wieder und wieder, und schließlich hatte ich endgültig die Nase voll. Ich zog den Reißverschluss an meiner letzten Tasche zu und hängte sie mir über die Schulter. »Und genau das ist dein Fehler«, erklärte ich.
Das waren die letzten Worte, die ich je zu ihr sagte.
Rustys Geburtstag 19.03.2007 - Barbaras Tod 29.09.2008 - Die Wahl 04.11.2008